Wort über das Gebet (Josefstal – 9.05.2012)

Begrüßungswort gehalten am Internationalen Seminar über das Gebet und das Beten, Josefstal, Bayern, 9. Mai 2012

Exzellenz, Herr Landesbischof, 
liebe Kursteilnehmer, liebe Schwestern und Brüder,
Christus ist auferstanden!

Ich freue mich sehr, dass ich heute Abend, morgen und übermorgen hier bei Ihnen sein kann zu diesem Seminar über das Gebet und das Beten, das von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern organisiert wird. Wir sind hier alle zu einer Art „Schule des Gebets“ versammelt. Dabei wollen wir voneinander lernen, wie wir besser beten können, damit unser Gebet immerzu ein Gebet des Herzens sei, also ein Gebet, das nicht nur unseren Verstand und unseren Intellekt beansprucht, sondern auch unser Herz, in dem sich wie in einem Fokus alle psychisch-physischen Kräfte der menschlichen Natur konzentrieren und wo die Taufgnade verborgen ist. Ich glaube, dass es nichts gibt, was uns Christen unterschiedlicher Konfession mehr eint als das Gebet. Denn im Gebet begegnen wir Gott und vereinen wir uns mit Gott dem Lebendigen, Der die Liebe ist und Der in unseren Herzen wohnt. Dieser „mit Worten und Gedanken unfassbare“ lebendige Gott ist ein anderer Gott als der der Philosophen und manchmal sogar der Theologen, die aus Ihm einen Gott der Spekulation machen und Ihn nach ihrem eigenen Bild formen, statt sich selbst nach Seinem Bild formen zu lassen. Um der großen Versuchung zu widerstehen, den im Gebet erfahrenen lebendigen Gott von dem Gott der Spekulation als „Objekt“ der rein intellektuellen Forschung zu trennen, haben die Kirchenväter von Anfang an gesagt, dass „der ein Theologe ist, der wahrhaft betet“ und dass „der, der wahrhaft betet, ein Theologe ist“, wie dies der Mönch Evagrius Ponticus im vierten Jahrhundert formuliert hat.

Ich bin der festen Überzeugung, dass das Nachlassen im Gebet und die Übertreibung in der theologischen Spekulation zu den Schismen und Häresien in der Kirchengeschichte geführt haben. Wenn die Christen mehr gebetet hätten, würden sie weniger das Bedürfnis nach theologischer Spekulation, also nach begrifflichen „Definitionen“ Gottes verspüren. Denn Gott entzieht sich jedem Konzept, jeder Definition, weil Er das Leben in der Fülle selbst ist. Dann wäre es nicht zu so vielen konfessionellen Spaltungen gekommen. Wenn die Kirchen außerdem wirklich verstanden hätten, dass das Gebet das Wesentliche des christlichen Lebens ist, „das einzig Notwendige“ (Lukas 10,42), dann hätten sich die Kirchen nicht so sehr in Aktivitäten dieser Welt verausgabt, die die Kirchen dann oft so sehr in Beschlag nimmt, dass sich die Kirche viel zu oft mit der Welt vermengt, statt sie zu verwandeln.

Ganz gewiss können wir nur im Heiligen Geist beten und Gott erkennen. Der heilige Apostel Paulus schreibt: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.“ (Römer 8,26) Der Geist leitet uns auch in alle Wahrheit (vgl. Johannes 16,13). Genau deshalb müssen wir uns dem Wirken des Heiligen Geistes in uns immer mehr öffnen. Wir müssen mit anderen Worten ein geistliches Leben führen, also ein Leben, das immerzu vom Geist Gottes inspiriert wird und sich inspirieren lässt. Ich nutze Ihre Anwesenheit, Herr Landesbischof, um Ihnen für eine einfache, aber ganz besonders treffende und schöne Definition der christlichen Spiritualität zu danken. Sie charakterisieren die christliche Spiritualität als „Öffnung gegenüber dem Geist“. „Öffnung“, weil wir nicht über den Heiligen Geist verfügen, wir können ihn nicht besitzen, sondern wir können Ihm nur unser Herz und unseren Verstand öffnen, damit Er in uns wirkt.

Die geistlichen Väter der kirchlichen Tradition lehren uns, dass der Heilige Geist in uns eine so delikate Präsenz darstellt, dass er sich sofort demütig in die Tiefen des Herzens zurückzieht oder mehr noch sich dort verbirgt, wenn wir sündigen, wenn wir oberflächlich leben und mehr auf die weltlichen Dinge hin orientiert sind oder wenn wir gleichgültig sind gegenüber den Nöten unserer Nächsten. Doch Er kehrt sofort zurück, wenn wir unseren Verstand auf Gott richten und beten, wenn wir unsere Sünden erkennen und bereuen und uns darum bemühen, unser Leben ganz dem Leben Jesu Christi anzugleichen. Ich hoffe und bete mit Ihnen dafür, dass wir in diesen Tagen eine lebendige Erfahrung der Gegenwart und des Wirkens des Heiligen Geistes in unseren Herzen machen, damit wir bereichert nach Hause zurückkehren, damit wir unsererseits unsere Nächsten bereichern können.

† Metropolit Serafim von Deutschland, Zentral- und Nordeuropa